Das Wort Inkunabel hat mich gelockt. Kindern meiner Nachkriegsgeneration ist dieses Wort aus Märchenbüchern bekannt. Aus Inkunabeln lasen die Zauberer ihre Zaubersprüche. Auf Illustrationen waren sie als große Bücher, unbedingt mit massiven metallischen Buchschließen, dargestellt. Falls sie geöffnet wurden, enthielten ihre Blätter einige sonderliche, vermutlich alchemistische, Zeichen. Tatsächlich sind Inkunabeln anders.
Im Jahre 1450 hat eine große technische Revolution begonnen: Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, hat den Buchdruck mit beweglichen Metalllettern und der Druckerpresse erfunden. Das revolutionierte die herkömmliche Methode der Buchproduktion und löste in Europa eine Medienrevolution aus. Texte konnten jetzt völlig gleichartig in größerer Anzahl reproduziert werden. Man spricht bei diesen frühen Drucken bis zum Jahr 1500 von Inkunabeln.
Die Ausstellung zeigt 100 Objekte, von prächtig illustrierten Büchern bis einzelnen Blättern und kleinen Teilen einiger gedruckter Texte, die man in den Einbänden alter Bücher gefunden hat. Mein Begleiter, Kenner der Geschichte, sagte mir mit einem Lächeln, dass es sich hier meistens um Raubgut handelt. Viele dieser Bücher kamen in die Bibliothek als Folge der Reformationsbewegung am Beginn des 16. Jahrhunderts. Damals verwüsteten die leidenschaftlichen Anhänger der Reformation katholische Einrichtungen in die Stadt. Bei zahlreichen Wandfiguren wurden Nasen zerstört: Man sollte keine Abbildungen dulden, diese könnten als Darstellungen von Götzen betrachtet werden. Kostbare Sachen kamen in Besitz der Stadt. Nicht nur Objekte aus Edelmetalle, auch Bücher waren damals sehr teuer. Sie landeten in der im 1537 gegründeten Stadtbibliothek. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts gelangten als Folge von Säkularisierung, andere alte Bücher aus kirchlichen Einrichtungen dorthin.
Als Bestätigung zeigte er auf eine Bibel, die 1480 in Augsburg gedruckt wurde. Die gedruckten Texte solcher Bibeln, die nur schwarz gedruckte Buchstaben enthielten, wurden weiter individuell mit komplexen und schönen ersten Buchstaben versehen. Auf Blatträndern wurden verschiedene Bilder gemalt und Inschriften gefertigt. In dieser Bibel gibt es das Bild »Jesuskind, Äbtissin Barbara Künigl vor Maria mit dem Kind« mit einer erklärenden Inschrift. Die Äbtissin gab offenbar nach dem Erwerb des gedruckten Buches einem Künstler den Auftrag, sie in diesem Buch zu verewigen.
Mein Begleiter hat meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gerichtet, dass die Ausstellung den gängigen Mythos zerstört: Ausgerechnet die Lutherübersetzung hat die Bibel für das deutschsprachige Volk zugänglich gemacht. In der Ausstellung gibt es einige wesentlich frühere gedruckte Übersetzungen der Bibel in »verständliche Volkssprache«. Und diese Übersetzungen wurden offenbar damals von der katholischen Kirche genehmigt, andernfalls wären sie nie gedruckt worden.
Neben den farbigen Bildern, wie die »Erschaffung Evas« mit prächtigen Farben und Blattgold in der Bibel von 1483, gab es auch schwarz-weiße Bilder, nach der bekannten Technik der Radierung. Bilder der verschiedenen Mondfinsternissen, der Einfluss von zodiakalen Zeichen an Pferden, Tabellen von Kirchenvätern schmücken die Blätter. Auf einem der Blätter sind auch Noten für eine Melodie dargestellt. Zudem ist auch ein Buch ausgestellt, in dem ein Bild versehentlich um 180° gedreht wurde: Zusammen mit dem Druckverfahren traten auch Druckfehler auf.
Die Vielfalt von gedruckten Büchern und Blättern erinnerte mich daran, dass die Möglichkeiten jeder technischen Revolution, die für große Zwecke geschafft wurde, danach für ganz andere, profane Zwecke genutzt werden. Ganz so wie Computer. Sie wurden für hohe wissenschaftliche Zwecke erfunden, heute aber dienen sie den meisten Benutzern zum Spielen oder als eine Schreibmaschine. Neben der Bibel, Gebetsbücher, Bücher von Kirchenvätern, Bücher über das römische Recht entstanden in der Druckpresse auch Almanache, die »Lehre und Unterweisung wie ein junger Mensch sich in Ehrbarkeit und guten Sitten erhalten soll«, Vorhersagen für das kommende Jahr, Horoskope. Für sehr wichtige finanzielle Zwecke, Tabellen zum Vergleich von Gewichten und Preisen der damaligen Münzen, wurde auch ein technisch komplizierter Druck in zwei Farben, schwarz und rot, verwendet.
Diese Ausstellung war nicht nur für mich und für Geschichte interessierte Menschen interessant. Ein anwesender Künstler war von den Darstellungen in den Büchern und ihren Farben begeistert, ein Druckereimitarbeiter wunderte sich über die scharf gedruckten Buchstaben. Zufällig kamen in die Ausstellung auch zwei junge Handwerker, die eigentlich in der Bibliothek Fenster reparieren sollten. Sie sahen die ausgestellten Objekte mit sichtbarem Interesse, wiesen sich gegenseitig auf Interessantes in den Vitrinen hin. Das gibt mir das Recht, Ihnen, liebe Leser*innen, zu empfehlen, sich diese Ausstellung anzusehen. Hoffentlich finden auch Sie dort etwas für Sie interessantes. Das ist noch bis 23. Dezember möglich.